Unabwendbare Biologie: Wie gemeinsames Singen uns verbindet

Die Menschen in einem Chor können noch so unterschiedlich sein - beim zusammen Singen streben alle nach Harmonie und Einklang.

Zusammen singen macht glücklich

Gemeinsam singen ist fast eine Glücksgarantie.
Das weiß ich aus eigener Erfahrung, aber das können mir auch mehr als 100 Millionen (!) aktive Chorsänger*innen weltweit (geschätzt) bestätigen. Das Bedürfnis der menschlichen Rasse, in Einklang mit anderen zu kommen, ist einmalig unter allen Lebewesen. Und es begründet unseren evolutionären Erfolg durch das Konzept, die Gruppe über das Individuum zu stellen.
Chorsingen spricht uns auf einer sehr archaischen und unterbewussten Ebene an und wird in harmonischer Mehrstimmigkeit als noch beglückender empfunden als einstimmiger Gesang - sowohl vom Sänger selbst als auch vom Publikum. 

Vom “Chor der Muffeligen” zum “Chor der Glücklichen”

Eine interessante Studie mit einem „Chor der Muffeligen“, für den absichtlich Menschen gecastet wurden, die sich unglücklich fühlten, konnte 2013 sowohl mit Hormonmessungen in den Chorproben als auch mit ausführlichen Befragungen vor und nach einer dreimonatigen Probenphase nachweisen: 
Der „Chor der Unglücklichen“ hatte sich zum „Chor der Glücklichen“ entwickelt, sowohl auf objektiver, wissenschaftlicher Basis (Messungen ergaben: Glückshormone wie Dopamin, Oxytocin und Serotonin waren nach den Proben signifikant erhöht) als auch ganz subjektiv für jeden einzelnen Sänger - wie man an den strahlenden Gesichtern und Aussagen beim Abschlusskonzert unschwer erkennen konnte.

(Tipp: Die Dokumentation mit Anke Engelke ist wirklich sehr spannend und berührend. Hier kannst Du sie anschauen (58 min.) und hier geht’s zum kurzen Trailer.)

Denn auch wenn das einstimmige „Rudelsingen“ im Stadion schon eine wahnsinnige Wirkung haben kann: Sich in einer mehrstimmigen Harmonie sowohl dem Ganzen zugehörig als auch als Individuum wichtig und einzigartig zu erleben, in Beziehung zu den Mitsänger*innen zu treten, sich auch mal zu reiben und Dissonanzen zu erleben, um sie dann wieder aufzulösen - das alles spiegelt menschliche Begegnungen und Beziehungen in einem musikalischen wie sozialen Gefüge wider und ist ungemein spannend und erfüllend.

Zusammen singen bedeutet: Gruppengefühl statt Einsamkeit

Wenn wir uns nonverbal „einigen“, wann wir gemeinsam atmen, leiser und lauter werden, gemeinsame Texte singen, uns in einem gemeinsamen Rhythmus oder Puls synchronisieren, befriedigen wir dieses starke, ursprüngliche Bedürfnis von Zusammengehörigkeit. Wir definieren uns als eine Gruppe, und das Musikstück ist unser gemeinsames Ziel, das uns zusammenschweißt. Jeder einzelne von uns fühlt sich verantwortlich für ein gutes Endergebnis, und jeder einzelne fühlt sich gleichzeitig von der Gruppe getragen. 

Wir vertrauen darauf, dass wir nicht alleine einsetzen, und dann entblößt und allein dastehen. Und wir vertrauen unserem Chorleiter oder unserer Chorleiterin, dass er/sie unser Schiff wie ein umsichtiger Kapitän um gefährliche Klippen und durch Stürme steuert, um endlich im sicheren Heimathafen des Schlussakkords anzukommen. 

All diese Eigenschaften der Chorarbeit finden wir natürlich auch in Bands (und in Teams, die wir aus dem Arbeitskontext kennen).
Aber: Beim Singen intensivieren sich alle Effekte, weil keine andere Tätigkeit uns so verletzlich und „nackt“ dastehen lässt wie das Singen (zumindest keine, die normalerweise in der Öffentlichkeit ausgeführt wird…).
Diese große Gruppe verletzlicher, offener Menschen macht einen Chor aber erstens „sicherer“ für den einzelnen Sänger, und zweitens unglaublich berührend und bewegend für das Publikum.

Im Chor auf einer Wellenlänge surfen

Beim Chorsingen sind wir auf einer Wellenlänge, und das in sehr wörtlicher Hinsicht - es geht schließlich um Frequenzen, um Schallwellen, und damit um Schwingungen, Pulsieren, Vibrieren - etwas, das wir auf körperlicher Ebene erfahren. Und unseren Körpern ist es ein großes Bedürfnis, sich anzunähern, gleich zu schwingen mit den anderen - ein Phänomen, das wir schon bei Babys deutlich beobachten können:

Der Mensch ist ein Tragling, das bedeutet, dass seine Jungtiere sich im Säuglingsalter am sichersten uns wohlsten fühlen, wenn sie von einem sich bewegenden Erwachsenen (am besten einer engen Bezugsperson) getragen werden. In der Regel war das in den Anfängen der menschlichen Entwicklung die Mutter, die ja das Kind schon vorher neun Monate im Bauch herumgetragen hatte. Rhythmen und Stimmklang der Mutter sind dem Neugeborenen also schon vertraut, wenn es auf die Welt kommt. Das Am-Körper-Tragen des Säuglings, in der nächsten Nähe der Nahrungsquelle (der Mutterbrust), im selben Rhythmus geschaukelt wie schon in der Zeit im Mutterleib, beruhigen das Baby auf einzigartige Weise

Auch das Ausweiten der nahen Bezugspersonen innerhalb einer sozialen Gruppe ist Teil des Abnabelungsprozesses von dieser engsten Verbundenheit mit der Mutter.

Je größer der Bewegungsradius des Kindes wird, desto größer wird die Herausforderung, mit der Umgebung im gleichen Rhythmus zu sein. Und umso stärker wird das Verlangen danach.

Wenn man Säuglinge im Alter von 6-12 Monaten (also dann, wenn sie schon selbstständig sitzen können) beobachtet, während rhythmische Musik läuft, passiert es oft, dass das Baby in seinem Sitz anfängt zu wippen und zu „hüpfen“. Die Körperkoordination ist allerdings noch nicht so weit entwickelt, dass es dem Kind möglich ist, sich sofort oder überhaupt dem Rhythmus der Musik anzupassen. Wenn es per Zufall aber doch gelingt (meist nur für ein paar Sekunden), dann erhellt auf einmal ein strahlendes Lächeln sein Gesicht. Die ungeheure Befriedigung und Freude, die wir empfinden, wenn wir es geschafft haben, uns zu synchronisieren, ist in den ältesten und überlebenswichtigsten Strukturen unseres Gehirns angelegt und wird früh entdeckt!

Musik zu machen ist also für uns Menschen ein Mittel, uns zu synchronisieren!

Musikalische Bildung und Entwicklung startet im Mutterleib - aber es ist nie zu spät, sie wieder aufzunehmen!

Die Musikpädagogik legt das Entwicklungsfenster für Rhythmus und Melodie im 5. und 6. Lebensjahr fest. Ich bin der Meinung, dass das oft zu spät ist, um die musikalischen Bedürfnisse und Anlagen (die in jedem Kind vorhanden sind) zu fördern. Dieser “pädagogisch richtige” Zeitpunkt nimmt auch wieder die Eltern aus der Pflicht, schon weit früher mit ihren Kindern zu singen, Klatschspiele zu spielen und zu tanzen - gern wird dieser Part nämlich dann auf die Kindergärten und die musikalische Früherziehung abgewälzt. Und oft höre ich als Begründung: “Ich kann das doch gar nicht!”
Aber sicher kannst Du! Es ist in Dir angelegt, zu klingen, zu schwingen, zu pulsieren - und Deinem Kind oder Enkelchen ist es völlig schnuppe, ob Du schön oder schief singst. Es lernt aber von Dir, dass es normal ist, zu singen, zu klatschen. Dass es Spaß macht, zu musizieren - auf welchem Level auch immer.
Ich beobachte bei so vielen Kleinkindern unter 3 Jahren die Suche nach dem Zusammenklang - aber statt darauf einzugehen, werden Tonies oder der Fernseher angemacht…

Und andererseits ist es nie zu spät, doch anzufangen zu singen: Erwachsene und ältere Kinder, die diese Grundmusikalisierung nicht oder nur lückenhaft durchlaufen haben, können (fast) immer noch alles lernen, was sie brauchen, um ein guter Chorsänger oder eine gute Chorsängerin zu sein.

Dinge wie Rhythmik und Körpergefühl sowie Gehörschulung und Intonation sind sicher dabei die langwierigsten Themengebiete (denn das lernen wir als kleine Kinder viel schneller) - aber oft auch die, die die größten Verbesserungen erzielen.

Zusammen musizieren oder Solist:in sein? Das eine schließt das andere nicht aus!

Musikalität zu erleben ist ein ganzheitliches Phänomen, und Musikalität zu erlernen ebenfalls.
Wer mit anderen zusammen singt, lernt andere Dinge als jemand, der allein übt. Aber beides ist wichtig und ergänzt sich!

Ein Solist, der mit den anderen Musikern aufmerksam kommuniziert, während er singt, ermöglicht in der Band eine größere Musikalität als der „Ego-Shooter“ oder die Diva, die nur darauf aus ist, solistisch zu strahlen.
Und die Chorsängerin, die zuhause Zeit und Mühe investiert, um an ihrer eigenen Stimme zu arbeiten, wird ihr Instrument im Ensemble flexibler und feinfühliger einsetzen können als ihre Nachbarin, die ihre eigene Stimme nur im Zusammenklang mit den anderen erlebt und ihre Wirkung bei weitem nicht so genau einschätzen kann.

Also, schau doch mal über den Tellerrand Deines Singens hinaus - vielleicht lässt sich der eine oder andere Wirkungskreis ja erweitern und Du findest neue Motivation und Ziele für Deine Singpraxis!

“Singing together in a room, taking that first breath together, and then singing together, I mean, nothing beats that, and nothing ever will.”  Eric Whitacre

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“Ich leihe Dir mein Ohr” - Gut zuhören lernen und so Deine Beziehungen verbessern

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Ziele setzen für die Stimme - aber mit Sinn!